GURKENTRUPPE:
Nachtschatten und Sonnenstrahl
In einem kleinen Vorratsschrank, in einer Ecke, die selten Beachtung fand, saßen zwei Gurken in ihrem Glas beieinander. Die üppige Gurke hieß Nachtschatten. Die schmale Gurke daneben wurde Sonnenstrahl gerufen.
Bisweilen nannte Nachtschatten sie auch halbe Portion.
Sonnenstrahl seufzte. „Du? Ich glaube, wir sind nicht mehr haltbar.“
Nachtschatten rieb ihren Rücken unbehaglich am Glas. „Was sagst du da?“
Sonnenstrahl nickt versonnen. „Wir haben doch stets den Tag der großen Fünf gefürchtet. Das Ende aller Tage. Gestern kam sie und ging an uns vorüber.“
„Die große Fünf! Die war hier?! Ich habe sie nicht gesehen“, rief Nachtschatten aus.
„Du hast geschlafen“, entgegnete Sonnenstrahl. „Wundert mich, dass du von der Wackelei und Schüttelei nicht aufgewacht bist.“
Nachtschatten versank in eine düstere Stimmung. „Weißt du, was das bedeutet?“
„Ja“, antwortete Sonnenstrahl leise. „Wir haben es hinter uns.“
„Genau“, sagte Nachtschatten.
„Wir sind schlecht, vergammelt, übelriechend, runzlig, faul, gammelig. OUT! Wir sind OUT!“ jammerte Sonnenstrahl.
„Ja, ja“, meinte Nachtschatten zunehmend verstimmt.
„Niemand wird sich jemals wieder für uns interessieren! Wir werden hier bis ans Ende aller Tage vor uns hinschwimmen. Wir werden gummig werden, schwammig, eklig, ausleiern!“ kreischte Sonnenstrahl.
„Es reicht!“ schrie Nachtschatten zurück.
Ruhe kehrte im Glas ein. Einige Kräuterfitzel und ein paar Senfkörner trieben vorbei.
Sonnenstrahl regte sich benommen. „Ich weiß noch, als ich reif war. Alle wollten sie etwas von mir. Die Brötchen, die Tomaten, der Senf. Ich stellte mir vor, wie es sein könnte, in dünnen Scheibchen eng an sie geschmiegt in der Dunkelheit zu liegen und auf die große Fünf zu warten.“ Sonnenstrahl starrte ins Leere. „Das wird nun nie passieren.“
Nachtschatten lächelte traurig. „Als ich noch klein war, wollte ich immer eine Senfgurke werden.“
„Die sind doch alle nackt im Glas! Ich finde das pervers“, meinte Sonnenstrahl. „Da sieht man alles.“
„Ach“, lachte Nachtschatten, „Liebes, die sind sorgfältig gewürzt und gehen weg wie warme Semmeln.“
„Hah!“ machte ein altbackenes Brötchen hinter ihnen in einem flachen Brotkorb. „Ich erzähl’ euch was über warme Semmeln. Da kann ich euch aber ein Liedchen von singen. Wisst ihr eigentlich, wie viele von uns zur Welt kommen, um dann zu vertrocknen und schließlich geraspelt, gerieben und verhackstückt zu werden, nur damit irgend so ein Schnitzel paniert wird!“
„Ich bin mal im Traum paniert worden“, flüsterte Sonnenstrahl.
„Und du findest es pervers, wenn ich davon träume, eine Senfgurke zu sein!?“ machte sich Nachtschatten über Sonnenstrahl lustig.
Draußen, vor den Türen des Vorratsschranks, wurde das Licht angeknipst. Ein Lichtstrahl schnitt den Spalt zwischen den Türen entzwei. Kurz erwachte die Hoffnung in Nachtschatten und Sonnenstrahl. Doch der Moment glitt vorüber. Das Licht verging wieder und mit ihm die Aussicht auf die große Fünf.
Die beiden Gurken seufzten auf. Das Brötchen richtete sich wieder behaglich in seinem Korb ein.
„Sieh mal“, stupste Sonnenstrahl Nachtschatten an, „da drüben, die Champignons, wie keck sie ihren Hut tragen.“
„Denen wird das Lachen noch vergehen“, sagte Nachtschatten grimmig.
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