DER KLEINE KRIEGER:
Geisterjagd #06

Der kleine Krieger und der Walddämon waren dem Plan gemäß den Stufen nach oben gefolgt, ohne sich über das Geschehen hinter ihnen Gedanken zu machen. Doch je näher sie der Turmspitze kamen, desto mehr verlangsamten sie ihre Schritte. Hutzel hatte den Geist schon viele Male gesehen und der Anblick hatte ihn stets beeindruckt.
Gut und gerne einen Kopf größer als Rotan hockte der Geist auf der Schatztruhe. Sein Kinn ruhte auf einer geballten Faust. Die weißen, glänzenden Augen blickten in eine weit entlegene Ferne, in der die längst vergangenen Kämpfe eines Krieges tobten, der den Gardan'Gre den Untergang eingebracht hatte.
Hutzel Longear kannte diesen Krieg nur aus Erzählungen, aber er musste einfach furchtbar gewesen sein. Das Volk der Gardan'Gre, angefacht durch den wilden Kriegseifer ihres Gottes Gre, hatte einen Landstrich nach dem anderen erobert. Vielfach waren die besiegten Kämpfer Gre geopfert worden. Ihr Reich dehnte sich soweit aus, bis es an das Gebiet der Dreggen reichte. Anfängliche Scharmützel, die lediglich dazu dienten, die Stärke des Gegners zu ermessen, zeigten, dass beide Seiten gnadenlos gegen den Feind vorgingen. Eine Konfrontation schien unausweichlich, ein Frieden oder wenigstens ein Waffenstillstand stand völlig außer Frage. Der erste Dreggen-König hob das größte Heer seiner Zeit aus, tausende und abertausende von Kriegern. Der Krieg geriet zu mehr als nur um die Vorherrschaft um die bekannten Ländereien. Es wurde ein Vernichtungskrieg. Städte und Dörfer der Garda'Gre wurden den Soldaten der Dreggen vom Erdboden getilgt und die Überlebenden in die Sklaverei geführt.
Hutzel Longear verstand die Verzweiflung des untergehenden Volkes, wie schlecht es auch in den Augen des Feindes gewesen sein mochte. Er selbst hatte lange Zeit nach den verbliebenen Angehörigen seines Stammes gesucht, bis er sie gefunden und in die Heimat zurückgeführt hatte. Und er verstand den Gardan'Gre hinsichtlich seiner Loyalität, die den Tod überdauerte. Der Wille eines Verzweifelten konnte übermächtig sein.
Auf leisen Sohlen führte der kleine Krieger den grünen Freund zum Eingang der obersten Turmkammer heran. So schnell es eben ging, lugte Hutzel um die Ecke und sah das bekannte Bild. Der Geist saß auf der Truhe, scheinbar in Gedanken verloren. Narben überzogen das durchscheinende Gesicht, tiefe Scharten und Striemen verschandelten die einstmals herausgeputzte Rüstung. Die Oberarme des Gardan'Gre strotzten vor gewaltigen Muskeln, die Unterarme waren mit stacheligen Schienen bewehrt. Ein Schwert und ein langer Dolch standen ihm als Bewaffnung zur Verfügung. Als Gürtelschnalle diente ihm ein stilisierter Kopf seines Gottes Gre, dessen aufgerissenes Maul spitze, scharfe Zähne offenbarte.
Hutzel schluckte geräuschlos. Er wollte nicht in diesen Raum hinein. Die Erinnerung an den Geist, der sich langsam erhob und ihn finsteren Blickes anstarrte, bevor er das Schwert zog, war noch zu frisch. Aber der Plan sah vor, dass er dieses untote Wesen hinablockte. Der kleine Krieger hatte den Beweis angetreten, dem Geist entkommen zu können und dieses Mal musste er nur bis zur Mitte des Turmes fliehen, wo die Grimmschis den Geist ablenken sollten.
Hutzel drehte sich zu Keinfussabhand um und lenkte ihn zu einer dunklen Nische, in deren schattigen Inneren sich ein zusammengerollter Walddämon verstecken konnte. Wohl ahnte der Walddämon um die gefährliche Situation, denn sein bekanntes, geringschätziges Hmpf blieb aus. Gehorsam ließ er sich in die Nische drücken und verharrte darin. Sobald dies vollbracht war und sich der kleine Krieger überzeugt hatte, dass Keinfussabhand tatsächlich in der Nische liegen blieb, wandte er sich seiner eigentlichen Aufgabe zu. Leise stieß er die Luft aus und zog die Schultern hoch.
***
Der Anführer der Grimmschis stand vor dem Eingang des Turmes. Seine Augen suchten das Zwielicht im Inneren ab. Er entdeckte halb verrottete Holzbalken. Grimmschis schätzten Gebäude nicht, aber sie hatten Strategien entwickelt, um lohnenswerte Beute nach draußen zu treiben. Er winkte zwei seiner Kumpane heran und befahl ihnen brennende Holzscheite zu holen.
***
Der kleine Krieger betrat das Turmzimmer. Zuerst tat der Geist so, als bemerke er den gedrungenen Eindringling nicht. Beinahe hatte es den Anschein von Langeweile. Nur ein weiterer unfähiger Schatzjäger schien dieses Verhalten auszudrücken. Schließlich erhob sich der Geist doch und überragte Hutzel Longear um ein Vielfaches.
Der durchsichtige Gardan'Gre streckte sich und gähnte. Daraufhin schenkte er dem kleinen Krieger, der mit angespannten Muskeln vor ihm stand, seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Stimme kam rauchig, geisterhaft.
"Wie häufig willst du winziger Kerl mich noch behelligen? Wesen wie du werden niemals an den Schatz gelangen, den zu hüten ich geschworen habe." Der Geist wirkte unschlüssig, ob er sein Schwert ziehen sollte oder ob er schlicht mit der Kraft seiner Fäuste den Winzling ungespitzt in die Bodenbalken rammen sollte. "Was treibt dich so sehr an, dass du nicht aufgeben willst?"
Hutzel lag eine Antwort auf der Zunge, gleichwohl gelang es ihm nicht sie zu geben, weil sein Mund ausgetrocknet vor Aufregung ihm den Dienst versagte und der Geist wohl auch nicht auf eine Antwort aus war.
Der Gardan'Gre machte einen stampfenden Schritt auf den kleinen Krieger zu, der erkannte, dass es nun ernst wurde.
Auf dem Fuße drehte er sich um, warf sich zurück durch den Eingang und rannte los. Doch bereits nach ein paar kurzen Schritten machte ihm ein hervorstehendes Brett auf dem Boden einen Strich durch die Rechnung. Er fiel der Länge nach hin und kullerte bis an den Rand der Wendeltreppe. Dort blieb er liegen, unfähig sich zu rühren, denn ein anderes gesplittertes Holzstück war ihm durch seine rechte Wade gedrungen und verursachte einen heftigen Schmerz und hielt ihn fest.
Der Geist erkannte, dass er sich nicht zu beeilen brauchte, um dieses Mal des Eindringlings habhaft zu werden. Gar zu langsam näherte er sich dem kleinen Krieger bis auf Armesweite. Alsdann bückte er sich, um nach einem der langen Ohren zu greifen. Als sei der Schmerz in seinem Bein noch nicht genug, raste nun eine weitere Feuerwalze durch seinen Kopf und raubte Hutzel beinahe den Verstand. Er schrie aus Leibeskräften seine Pein hinaus.
Wird fortgesetzt.
Quelle: Der kleine Krieger
[ mn ]

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